Wüste

Wüste

Der jetzige Abend ist ein wenig zusammengesackt und es ist nur die Arbeit, die mich jetzt vor einer etwas öden Leere bewahren kann. Ich werde jetzt diese Zeilen schreiben, danach vielleicht noch etwas für mein Studium tun (selten genug bisher) und mal einen Abend ohne Feterei vergehen lassen. Ich habe meine Haare von einer Tirolerin schneiden lassen, die mit ihrem Freund hier in Paris für eine Woche blieb, beides Freunde von Luca, sie haben hier übernachtet und ließen mich mit gestutzten Haaren zurück. Ich hatte an dem Tag noch einen weiteren Frisörtermin bei einem Freund des Nachbarn von Torsten, aber den ließ ich zugunsten der Tirolerin ausfallen. Sie hat es gut gemacht, war es doch auch einmal ihre Tätigkeit gewesen.

Ich dachte der Abend brächte heute eine weitere Fete, aber es war doch nichts. Die beiden Spanierinnen sind gegangen und ich habe sie gehen lassen in einem üblichen Anfall von Resignation. Zwar treibt mich in vielen Momenten ein ebenso üblicher Anfall von Sehnsucht immer wieder dazu, mich zu verfluchen und mir zu schwören, rigoros etwas gegen meine einsamen Nächte zu unternehmen, aber wie immer ist in den Momenten, wo es vielleicht darauf ankäme, die Luft irgendwie raus und wenn ich es dann doch irgendwie versuche, fruchtet es natürlich nichts, weil jedes Ding wieder einmal seine Zeit hat und aus einem bisher ungeklärten Grund Frauen besser nachts alleine sein können als Männer, oder zumindest tun sie so.

Aber verdammt auch, wie schwierig ist es doch, ein bißchen Liebe zu erlangen. Wie schier unmöglich ist es. Vielleicht muß man es hier wie mit dem Castanedaschen Aufstehen machen. Die Details übergehen, die Handlung abstrahieren und trotzdem die Augen offenhalten, um jeden Moment zu erkennen, jede Gelegenheit zu erspähen. Aber was, wenn nun wirklich einfach keine Gelegenheit da ist? Keine echte, meine ich? Was wenn wirklich das Schicksal sagt „nein, weg, du kriegst nichts.“ und wenn man die gewähnten Momente tatsächlich nur falsch interpretiert? Ich könnte wie üblich auf meinem Stuhl zerfließen.

Jetzt ist gerade Andrea, mein italienischer Nachbar gekommen und zusammen mit ihm spiele ich wieder etwas herum auf der Gitarre.

Ich habe mich soeben auf französisch, zwar meinerseits brutal bruchstückhaft, mit gräßlicher Grammatik – für einen Franzosen sicherlich Ursache einer ernsten Magenverstimmung -, aber dennoch ausgezeichnet unterhalten, und zwar über Dinge, mit denen es sogar auf deutsch eine schwierige Diskussion werden würde. Über Kultur, Film, Musik, Gesellschaft und Persönlichkeit, Verhaltensweisen, Realität und Imagination. Und alle die übrigen Dinge, über die ich mir auch vor mich hin und mit anderen, letzteres leider bei weitem viel zu selten, meine Gedanken mache, und ich stoße bei Andrea auf eine Person, die so sensibel und differenziert denkt und an Dinge stößt, deren Gedanken ich gedacht oder zumindest angedacht habe, daß ich jetzt einfach keinen vernünftigen Satz mehr zustande und vor allem zu Ende bringe. Ich habe eine Übereinstimmung entdeckt, die mich überrascht und ich würde gerne mich besser artikulieren können. Die Welt scheint mir jetzt wieder gerettet, ich orientiere mich nicht mehr bloß an gesellschaftlichen Äußerlichkeiten, ich habe wieder etwas mehr zu den Innerlichkeiten gefunden, die Oasen sind inmitten dieser Wüste, öd und leer und voller krabbelnder Insekten, die an toten Kadavern nagen, von Kojoten zerfressen und ich drifte ein wenig ab. Nein ich bin nüchtern, ich lasse bloß meine Gedanken ein wenig fahren.

Auf der anderen Seite hält einen Gesellschaft vom Denken ab. Draußen höre ich Gelächter. Denken sie dabei noch? Was denken sie, wenn sie so lachen? Was gibt es eigentlich zu lachen, hier in dieser Wüste, mit ihren knabbernden Kojoten, stinkenden Kadavern und ich bin wieder dabei, abzudriften.

Es gibt soviel zu denken, daß man eigentlich Tag und Nacht damit beschäftigt sein müßte, um alle Fragen zumindest einmal präzise stellen zu können.

Momentan bin ich nur dabei, wieder etwas zurechtzurücken. Einige wenige Gegenstände in meinem Hirn an die richtige Stelle zu schieben. Ich sollte nicht so abhängig von Äußerem sein. Ich möchte unabhängiger sein, von den lachenden Tuaregs, die mir ihre Seide verkaufen wollen und ihre billigen Uhren, von den Luftspiegelungen, die mir Paläste und Meere vorspiegeln, am Horizont, wo die Sandkämme sich an den Himmel schmiegen. Gibt es eine Wasserstelle, an der ich trinken, eine Palme, an der ich mich reiben kann, wenn es mich am Rücken juckt? Ich bin ein Riesenaffe mit langen Armen, der sich durch die Äste hangelt, weil es eben so seine Art ist. Was gibt es im Urwald anderes zu tun, als sich durch die Äste zu hangeln? Dabei ist es nicht immer notwendigerweise, um dadurch Nahrung zu entdecken. Nicht alles im Leben dient der Nahrungsaufnahme oder der Vermehrung. Das Hangeln im Urwald an sich kann sehr befriedigend sein, besonders wenn man gerade erst eine zeitlang in einer öden Wüste gesessen hat, die Knie bis an das Kinn hochgezogen, um in die bleiche Ebene zu schauen, die das Mondlicht reflektiert. Warum ist die Nacht soviel geheimnisvoller als der nackte Tag?

Was machst du? Entdeckst du die Welt oder siebst du den Sand, der sich vor deinen Füßen befindet? Schaue auf. Du bist am Rande eines Dschungels, den du gar nicht wahrgenommen hast. Du wärest dir sogar sicher, daß er gar nicht da war, als du das erste Mal hierherkamst. Aber kannst du dich erinnern, wann es war, das erste Mal? Oder war es woanders, wo du hinkamst, als du dachtest es wäre hier? Oder ist es bloß eine weitere Luftspiegelung in deinem Rücken, die nur dann erscheint, wenn du dich umdrehtst? Verschwindet sie hinter deinem Rücken? Kann eine Luftspiegelung überhaupt existieren, ohne daß jemand sie beobachtet? Wirst du beobachtet, und verschwindest du, wenn dich niemand beobachtet?

Im allgemeinen hasse ich Fragezeichen am Ende eines geschriebenen Satzes.

Warum hasse ich Fragezeichen am Ende eines geschriebenen Satzes?

Ich hasse Aussagen, die glauben, etwas verurteilen zu können.

Ich hasse Aussagen, die sich auf sich selbst beziehen.

Gut nun, ich habe ein Wochenende vor mir. Meine beiden deutschen Kollegen sind nicht hier. Ich merke ihre Abwesenheit. Bis jetzt haben wir uns jeden Tag getroffen. Jetzt schmeckt der Tag anders.

Gibt es für alles immer eine Vorbereitung? Auf das Kommende. Ist es hinreichend, sich darauf einzulassen? Wieweit muß man selbst dazu beitragen, etwas herbeizuführen?

Wer hat die Freiheit erfunden?

Man ist vielleicht jetzt anders. Nach einem Aufenthalt in einem Land voll anderer Gedanken. Denkst du dann noch wie vorher? Ich beginne, anders zu denken, auch wenn es noch nicht französisch ist. Ich liebe den Zustand, mir selbst ein Fremder zu sein. Keine meiner Bewegungen und Gedanken genau vorassagen zu können. Ist dies die Freiheit, die ich spüre? Beginne ich, Fragezeichen am Ende meiner Sätze zu akzeptieren?

Auf jeden Fall beginne ich, es zu schaffen, die mir auf dem Weg entgegenkommenden Menschen nicht immer in die Augen zu starren. Ich bin allmählich in der Lage, an ihnen vorbeizuschauen, wo es auch nicht wesentlich interessanter aussieht. Und nur im Augenwinkel nehme ich ihre Konturen wahr. Das Weiße ihrer Augen, in deren Mitte die Pupille ist, genau wenn sie mich anschauen. Aber diesmal schaue ich nicht hin, ich bleibe auf meinem Weg. Dieses stumme Anschauen, dieses kurze Teilhaben an jemandes Gedankenspiel, auch wenn es seine Mine nicht immer verrät. Aber dennoch habe ich den Eindruck, als ließe ich sie teilhaben an meinen inneren Gedanken, bloß beim Verschmelzen der Blicke. Nehmen sie teil? Ich erahne Ähnlichkeiten, dramatische Diskrepanzen und langweilige Lügen, die sich in ihrem Kopf abspielen. Ist für sie das Leben so, wie für mich? Das selbe Leben, das sie führen in der selben Welt wie ich. Nun, man sagt mir, nein. Aber wie kann die Welt für sie anders aussehehen als für mich?

Morgen kann ich ausschlafen. Das beruhigt ein wenig das schlechte Gewissen, das ich habe, daß ich jetzt noch, obschon müde und zu faul zum Schlafen, am Computer sitze und Dinge tippe, die mir durch den Kopf gehen, ohne sie groß anzuschauen. Vielleicht ist das Weg, der aus der Wüste führt.

Kleine Steine, die im Sande stecken, bunt wie Fische. Manchmal sind sie ein wenig zu kantig, um sie in die Hand zu nehmen, einige sind glatt und lassen sich über die Gesichtshaut streicheln. Wie zärtlich kann ein kühler Stein sein…

Wenn ich nachts mit dem Rücken zum Sand schlafe, meine ich, die Wüste möge mich umarmen. Wie wenig höre ich, wenn ich still bin. Kaum ein Geräusch als das des Windes, der die Steine altern läßt und ihnen Falten gibt.