Lateinamerikanischer Abend

Lateinamerikanischer Abend

Endlich war ich bei diesem lateinamerikanischen Abend, von dem mein Mitbewohner, der schöne schwule Chilene, ständig schwärmt, während er nichts anderes gelten läßt. Und natürlich war ich ganz alleine da. S… wollte nicht, eingekapselt wie noch nie in irgendeine Wattekugel, die ihn so vollkommen unzugänglich machte, daß ich wirklich mich sehr zusammennehmen mußte, ihn nicht anzufahren und meine Wut gegen sein Phlegma zu setzen.
Es macht mich rasend, wenn er so ist. Er spricht dann ganz leise, ganz ganz leise und furchtbar allgemeines Zeug. Nichts ist dann persönlich, nichts kommt von Herzen. Ich habe das Gefühl, ich rede mit einem Kommunikationsprogramm, das irgendein Soziologe in einem Anfall von Sarkasmus programmiert hat. Alles, was ich sage, wird zur Kenntnis genommen, aber sofort in irgendein Fach weggelegt. Bisher war es „Rhetorik“, was ich dann sagte, wenn ich versuchte, ihn etwas aus der Reserve zu locken, ihm meine Beobachtungen und meine Folgerungen zu vermitteln. Heute war es der „Psychologe in mir“, der sprach, wie er schlaff und sachlich konstatierte. Ich hatte natürlich den Fehler gemacht, ihm von meinem letztgelesenen Buch über multiple Persönlichkeiten zu erzählen. Oder wenigstens versucht, dies zu tun. Es interessierte ihn nicht weiter. Er hat sich die Fingernägel abgeschnitten, um sich von der Gitarre fernzuhalten. Ich bin wirklich kurz vorm Ausrasten, wenn ich mir diese Art der Selbstbeschneidung klarmache. Warum? Warum verflucht noch mal? Wer hat ihm diese Scheisse eingetrichtert? Wer zwingt ihn, sich zu beschneiden und zu beschränken. Worauf denn eigentlich? Da er alles beschränkt, bleibt überhaupt nichts mehr übrig. Er lebt in seiner kleinen Wohnung, leidet unter der Hitze oder unter Kopf- oder Magenschmerzen, geht hin und wieder raus, um, wie er sagt, ziellos umherzuwandern, verbietet sich, Dinge zu kaufen, sogar wenn sie wichtig sind. Er hatte keinen Käse im Haus oder irgendwas anderes zum aufs Brot schmeißen. Dabei sieht er selbst, daß dies ungeregelt ist und daß er eigentlich Geld dabei verliert, weil er dann die paar Kleinigkeiten oft kurz vor Ladenschluß auf die Schnelle im nächsten und nicht gerade billigsten Supermarkt einkaufen muß. Und auch dann nie genug. Immer nur soviel, um sich gerade über die nächste Runde zu bringen.

Ich muß mich eher bremsen, nicht zuviel einzukaufen. Gestern habe ich ein recht schönes Hemd gekauft, für 12,- , als ich zufällig in einer Nebenstraße unterwegs war, um Zigaretten zu besorgen. Heute habe ich Gitarrensaiten und Papier und Bleistifte geholt. All dies fehlt mir sonst im entscheidenden Augenblick. Morgen würde ich gern, wenns nicht regnet, in der Stadt spielen. Endlich. Ich weiß, ich werde mich zwingen müssen. Aber von S… bekomme ich jedenfalls keine Motivation. Gar nicht darüber zu reden, daß wir eigentlich mal vorhatten, gemeinsam anzufangen. Er meint aber, das sei ohnehin „immer meine Idee“ gewesen. Und ich kann ihn wirklich mit nichts aus der Reserve locken. Der Fall scheint hoffnungslos. Damit stirbt für mich der letzte Mensch auf dieser verdammten Erde, mit dem ich je musikalisch zurechtgekommen wäre. Es ist ein absolutes Desaster. Ich sehe wirklich keine Möglichkeit, ihn aus seinem Phlegma zu reißen. Nun will ich immerhin mich selbst nicht auch von dieser Watte einhüllen lassen. Aber ich muß leider feststellen, daß ich in dieser Stadt wirklich ganz alleine bin. Ich komme mir wirklich mutterseelenallein vor. Alle Welt lacht und feiert und ist guter Dinge, aber ich stehe da irgendwo herum und darf zuschauen.

So heute abend natürlich auch wieder einmal. Es ist schon ein ungeheuer dummes Gefühl, wenn du allein auf der Tanzfläche stehst und um dich herum fast ausschließlich Pärchen tanzen und ihre Hüften in atemberaubender Weise wiegen. Du denkst „Nun gut, laß sie mal, ich mach jetzt trotzdem weiter“. Aber irgendwann, da überkommt dich wieder diese Verlorenheit. Und dann kommt gleich hinterher die Wut. Denn ich will nicht schon wieder in jene bodenlose Traurigkeit sinken, die ich bis zum letzten Meter ausgelotet habe. Es ist bestimmt kein schöner Anblick, wenn da so ein griesgrämiger, schlaksiger Mensch steht, der eigentlich mitlachen will, aber nur ins Leere lachen würde und also einen weiteren winzigen Schluck aus seinem Bierglas, an dem er sich festhält, und einen Zug aus seiner Zigarette nimmt, die obligatorisch und entschuldigend zwischen seinen Fingern hängt. Um ihnen allen diesen häßlichen Anblick zu ersparen, geht der Mensch nach erstaunlich kurzer Zeit einfach raus und kommt nicht mehr wieder. Aber außer ihm hats bestimmt keiner mitgekriegt. Ach, wie er diese Einsamkeit haßt! Diese verfluchte, abstoßende und bemitleidenswerte Aura der Einsamkeit, die er um sich herum hat. Und doch bemüht er sich, sich nichts anmerken zu lassen, schlau zu sein und einfach mal so zu tun, als gehöre er dazu. Doch natürlich nimmt ihm das auf Dauer niemand ab. Und so läßt ers schließlich und zur vollkommenen Gleichgültigkeit aller Anwesenden verläßt er diesen Ort, um seine Trauer und Wut ein weiteres Mal auf die Tastatur zu hacken, da er um diese Uhrzeit nicht mehr laut Musik machen darf.

Ich habe mir eigentlich vorgenommen, ein wenig disziplinierter zu sein und kurz und sachlich über mein Vorhaben, nein meinen wilden Entschluß zu berichten, hier Menschen zu studieren. Ich besuche diese Orte wie einen Vorlesungssaal. Und natürlich darf ich nicht erwarten, daß die Vorlesungen alle spannend sind. Viele sind gemäßigt, manche sind langweilig, andere zermürbend und entmutigend, aber dennoch, man hat sich dies Studium ja schließlich ausgesucht, also darf man sich nicht beschweren. Ich habe mal so beschlossen, daß ich gerade Erstsemester bin in Menschenkunde. Alles, was vorher war, tue ich als laienhafte Stümperei ab, und das wars schließlich auch. Kein Konzept, kein tieferes Wissen, keine Orientierung, keine Zielstrebigkeit, nichts. Einfach nur ständiges Hineinschnuppern und in die nächste Ecke kotzen. Wesentlich anders wirds zunächst auch nicht sein, aber da bei mir alle ersten Male verheerend sind und von geradezu lächerlichen Fehlschlägen begleitet werden, soll michs nicht verwundern und vor allem und immer wieder: Wer wird denn gleich aufgeben?!! Na, wars denn so schlimm? Ja? Na und, du Pfeife, meinst du für uns andere wars besser?
Ich glaube schon. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß all die glücklichen Menschen auch so dermaßen auf die Fresse gefallen sind. In den Dingen, wo ich einen Vergleich habe, wars jedenfalls nicht so. Oder gibt es viele Leute mit 54 Fahrstunden ohne Führerschein? Nun lassen wir das.

Was das einzige ist, was mich dabei irgendwie reizt ist, daß ich mich immerhin nicht langweile. Auch der Schmerz ist besser als die Langeweile. Heute habe ich tatsächlich, nachdem ich meine Quantenphysik brav und angeekelt durchgerechnet habe, in meinem Zimmer gehockt und nicht gewußt, was ich als nächstes tun soll. Das ist mir schon fast entfallen, dieses Gefühl, wirklich nichts tun zu können. Natürlich sind da immer einige Dinge, die getan werden wollen, aber sie schienen für den Augenblick unbewältigbar. Eine enorme Lustlosigkeit wollte sich meiner bemächtigen. Nachdem ich ein paar mal ziellos in meinem Zimmer auf und abgegangen bin, ging ich raus und kaufte die besagten Dinge, um mich anschließend bei S… einzufinden und danach gemeinsam in die Disco zu gehen. Von wegen Disco! Vorlesung, harte Materie, die eindlich gelernt werden muß. Ich dummer Erstsemester, was muß ich noch alles lernen!

Ich hielt es irgendwann bei S… aber nicht mehr aus und ging wieder ziellos durch die Stadt, trank irgendwo einen enorm wohltuenden Kaffe, vertrieb mir die Zeit bis zum Beginn der Vorlesung, den ich mir auf Viertel nach Elf festgelegt hatte. Zahlend betrat ich den Hort der guten Laune. Zunächst beschloß ich, ebenfalls gutgelaunt zu sein, mich auf Musik und Leute einzulassen und so zu tun, als wären sie ganz für mich da. Dann bemerkte ich, daß sie gar nicht ganz für mich da waren, daß sie eher im höchsten Maße überhaupt nicht für mich da waren. Und nach anderthalb Stunden erklärte ich die Lektion für beendet. Immerhin bewahrte mich der frühe Rückzug vor den gewohnten schlimmen und vernichtenden Tiefgängen. Zwar war ich wütend und traurig, aber ich war nicht zermürbt und zerstört, wie das sonst so üblich war. Tja, so beendete ich heute meine erste Vorlesung und ich weiß natürlich nicht genau, was ich eigentlich gelernt habe. Ich habe nur ein weiteres Mal erfahren, daß ich noch nicht imstande bin, über meine radikale Schüchternheit hinwegzuspringen, sondern daß ich über diese Hürde so falle wie ein selbsternannter Olympialäufer, dem die Schnürsenkel ständig aufgehen. Und irgendwer hat verpaßt, mir beizubringen, wie ich diese Schnürsenkel wieder zumache.