Kino

Kino

Ich bin heute nicht zur Vorlesung gegangen. Ich stand vor dem Jazzhaus mit S…, wir sprachen über den Film, den wir uns kurz zuvor angesehen hatten. Es gibt über diesen Film eigentlich nichts zu sagen. Und genau darüber haben wir geredet. Ich finde es wichtig, aus allem, wo man seine Zeit hineinsteckt, auch etwas herauszuholen. Es gibt für mich nichts kostbareres als Zeit. Und wenn ich da sitze, unbeweglich für zwei Stunden, dann mache ich die Achterbahn mit. Ich lasse mich physisch und emotional durch die Gegend wirbeln, so gut ich es eben kann. Ich betrachte den Film nicht als Film. Er ist eine Gefühlsmaschine. Du gehst hinein, normal und nüchtern, nimmst deinen Alltag mit hinein. Dann irgendwann kommst du wieder raus und bist einmal durch die Mühle gedreht worden. Spannung, Liebe, Edelmut, Hilflosigkeit, Mut, Ekel, Mißmut, Angst, das ganze Zeug, was man in sich trägt. Und was soll ich einem Film vorwerfen, der mich immerhin aus meinem eigenen Theater rausreißt. Ich muß einen Film nicht während des Guckens beurteilen. Ich erlebe ihn so, wie er ist, und dann sehe ich anschließend, was dran war und was fehlte. Was bringt mir die innere Jury, die mir den ganzen Film über Informationen rüberreicht, was gerade passiert und was das im Zusammenhang mit anderen Filmen, ja dem Film an sich bedeutet. Nichts, nichts, nichts. Ich sitze da und gebe meine Zeit. Sonst gehe ich eben raus. Aber heute mußte ich nicht rausgehen, ich blieb und ließ mich hierhin und dorthin ziehen. Obwohl der Film seine Chance verpaßt hat, ein Film zu sein, so wie ich ihn verstehe: ein Film, der mich verändert, nicht bloß für die Minuten hinterher, sondern für mein Leben.

Jeder Tag ändert mein Leben. Ein Tag, der nicht mein Leben geändert hat, ist ein verlorener Tag. Und manchmal mache ich die erstaunlichtsten Veränderungen gerade dann, wenn ich in Gefahr gerate, mich zu langweilen. Ich habe gestern in der Stadt gespielt. Ich hätte mich sonst gelangweilt. Es gab nichts zu tun. Also entschloß ich mich, ohne große Überlegungen, die Weste anzuziehen, den Hut aufzusetzen, mir schnell ungefähren Überblick zu verschaffen, welche Stücke ich bringe, dann holte ich mir den Hocker von S… und setzte mich mit der Gitarre in die Fußgängerzone. Zack. Die erste Aufregung verflog, meine Hände waren glücklich, spielen zu dürfen, meine Stimme, singen zu dürfen und manche Passanten, die stehenblieben, waren glücklich, zuhören zu dürfen. Das ist es, was ich unter Leben verstehe. Alles andere ist Murx. Leichter, öder Murx.

Es gibt zwei Arten von Vergnügen, leichte und schwere. Es gibt auch zwei Arten von Menschen: jene, die das leichte Vergnügen genießen können und die anderen. Ich gehöre zu den anderen. Und nun endlich fühle ich mich imstande, das nicht mehr schlimm zu finden. Warum soll ich mir weiter vorwerfen, daß ich nicht das leichte Vergnügen genießen kann. Ich genieße es einfach nicht. Punkt.

Nun, ich ziehe die Zustände vor, die mir Kraft geben. Wenn ich in solchen Discos herumhänge, kann ich nicht anders: ich unterwerfe mich. Ich unterwerfe mich den Mädchen, ich unterwerfe mich den Jungs. Ich unterwerfe mich der Musik, ich unterwerfe mich der Stimmung. Ich unterwerfe mich dem Bier, ich unterwerfe mich den Zigaretten. Ich bin nicht der Herr über alles und bin nicht der Herr über mich selbst. Ich bin eine Zierleiste in der Hintergrunddekoration. Ich trage zum Bild der Tanzfläche bei und gehe darin unter. Niemand sieht mich und ich bedeute nichts. Ich kann das nicht ertragen. Wenn ich irgendwo meine Zeit lasse, dann soll das wertvoll sein. Entweder für mich oder für andere, oder für beide. Dort aber ist es gar nichts. Ich könnte genausogut auch weg sein, niemand vermißt mich, niemand begrüßt mich.

Ich versuche wie eine Biene aus jeder Blüte noch Honig zu saugen. Auch wenn es ein Gänseblümchen ist. Das ist für mich das schwere Leben. Es bedeutet immer und überall zu sein, um zu saugen. Und Honig zu produzieren. Sonst bin ich nichts. Und das reicht nicht. Es kotzt mich an, da zu sein, ohne nicht auch weg sein zu können. Ich kann es nicht genießen, unbeachtet herumzustehen. Ich kann es nicht genießen, meine Zeit zu verschwenden und dabei noch irgendeinen Rest in mir zu haben, der heraus will. Ich will dem hungrigen Wolf keine vertrockneten Knochen vor die Pfoten werfen. Er brauch etwas anständiges zu beißen, oder er knurrt und wird wütend. Traurigkeit ist verkappte Wut. Wer trauert, läßt die Wut nicht zu. Vielleicht wirft er sie sich vor oder er glaubt, es gehöre sich für ihn, traurig zu sein.

S… kam gestern zu mir. Er schlich die Treppen hoch, sah bleich und ungesund aus und setzte sich an den Abendbrottisch, um zu schimpfen, um zu spotten, um sarkastisch zu lachen, um bissige Bemerkungen zu machen, um zu verachten. Ich habe ihn geliebt dafür, er hatte recht. Als er fertig war, war es späte Nacht und wir haben den Wein alle gemacht und noch zwei Joints geraucht. Dann haben wir uns auf den Teppich gesetzt und Wolf Biermann gehört, wie er von M…, M…, M… und mir 1989 interviewt wurde. Dann ist S… schlecht geworden und er wankte auf die Toilette, um sich zu übergeben. Er hat es nicht geschafft. Ich schlief auf der Isomatte, er im Bett und neben sich die Glasschüssel, in die schon N… reingekotzt hatte. Sie blieb leer. Am nächsten Tag war alles anders. Wir haben gefrühstückt, gelacht, musiziert und uns überlegt, gemeinsam zu spielen. Er wollte eine Aufnahme machen, aber mein Mikrophonkabel war gerissen, und als ich es lötete, ging der Stecker kaputt.

Dann waren wir in der Stadt, haben Freiburg von Berg aus betrachtet, sprachen über die dünne Haut, die der Zweifel vor uns aufspannt und die all unsere Ängste vorspiegelt. Wir brauchen sie nur zu durchreißen. Aber dies ist das Los der schweren Menschen: sie können es nicht mit der bloßen Hand.

Anschließend waren wir im Kino. Es läuft im Augenblick wirklich nichts in Freiburg. Also gingen wir in „Bunte Hunde“, weil es immerhin ein deutscher Film ist, der vielleicht etwas mit uns zu tun hat, unserer Art, zu leben, zu denken, zu fühlen. Wir sind nicht in „Don Juan De Marco“ gegangen, obwohl ich bei Stein-Schere-Papier gewonnen hatte und ihn eigentlich sehen wollte. Ich möchte mich gerne wie Don Juan fühlen, wenn ich aus dem Kino komme. Ich möchte mich überhaupt gerne wie Don Juan fühlen. Gut, das wir nicht reingegangen sind. Ich bin nicht Don Juan, weder de Marco noch von sonstwo. Es ist einfach eine Lüge, die ich mir erzählen will, ein Märchen, das ich mir immer wieder gerne selbst vorlesen möchte. Nein. Nicht mehr. Ich bin nicht Don Juan.

Anschließend sind wir zum Jazzhaus gegangen, obwohl S… nicht mit reinkommen wollte. Ich sagte, er könne mich doch immerhin dorthin begleiten. Wir kamen an, eine Gruppe beendete gerade ihren Auftritt, anschließend sollte die Disco beginnen. Ich sah das Licht, die Leute und ich dachte: nein, nicht schon wieder. Zunächst blieb ich stehen und hielt aus. Dann aber, mit einem erstaunlich kurz und fest gefaßten Entschluß gab ich den Abend dort auf. Ich gab ihn nicht auf, ich warf ihn ins Feuer. Ich warf ihn ins lodernde Feuer. Möge es all diese Dinge, die ich ihm heute geopfert habe, verzehren und in fruchtbare Asche verwandeln.